3.5. Regelkreise lebender Systeme
Ich benutze das Modell des Regelkreises, um dazu nähere Aussagen zu machen.
Grundsätzlich handelt es sich bei den Regelkreisen, die die Selbsterhaltung sichern, um Regelkreise mit negativer Rückkopplung. Sie korrigieren eine Abweichung von einem Normwert oder Sollbereich und sorgen durch eine Gegenregulation für die Rückkehr in den Sollbereich.
Auch diesbezüglich besteht ein diametral entgegengesetzter Regelmechanismus zwischen dem Ziel der Selbsterhaltung und dem Ziel der Selbstentfaltung. Ziel der Selbsterhaltung ist die Aufrechterhaltung eines Zustandes von Homöostase, eines äußeren Ruhezustandes, hier des Zustandes "Leben". der Regelkreis mit positiver Rückkopplung führt zu immer weiterer Steigerung des Gleichen, er ist explosiv.
Von Foerster sagt dazu: "...;unendliche Rekursionen führen zu einer Stabilität...Gewisse Operatoren divergieren, und meine Behauptung ...lautet nun, dass die Operatoren, welche divergieren, einfach verschwinden.... Alles, was nicht stabil ist, explodiert sozusagen oder eliminiert sich selbst, kommt nicht mehr vor, kann nicht mehr auftauchen, ist verschwunden." Oder: "Divergente Operatoren verschwinden, sie >kürzen sich weg<. Diese Form lässt sich einfach nicht aufrechterhalten."
Dagegen behaupte ich, dass von Foerster hier in die falsche Richtung schaut.
Das, was ich Selbstentfaltung nenne, lässt sich sehr schön als sich selbst verstärkender Regelkreis, also ein Regelkreis mit positiver Rückkopplung, beschreiben. Das Verhalten, das daraus resultiert, kürzt sich jedoch nicht weg, sondern es trifft auf Wiederstände in der Umwelt des Systems.
Das lebende System und seine Umwelt gehören zusammen. Das aus der Welt gedanklich herausgeschnittene System befindet sich nicht um luftleeren Raum, sondern in der Welt. Es ist ein offenes System und benötigt zu seiner Selbstentfaltung die Umwelt. Es ist ohne sie nicht denkbar, es handelt in ihr und mit ihr und stößt bisweilen auf Widerstände in seiner Umwelt. Die inneren Regelkreise mit positiver Rückkopplung führen geradezu gesetzmäßig auf Widerstände der Systemumwelt, und durch den Kampf mit und gegen diese Umwelt ändert sich das System.
Evolution ist doch auch das Ergebnis des Kampfes des lebenden Systems gegen die Widerstände, die diese Umwelt seiner Selbstentfaltung entgegensetzt, und nicht nur Ergebnis des Absterbens von Variationen, die in der sich verändernden lebensfeindlichen Umwelt nicht schnell genug Nachkommen erzeugen.
Gerade der Mensch zeichnet sich ja dadurch aus, dass er sich seiner Umwelt nicht nur anpasst, um sein Überleben zu sichern, sondern dass er seine Umwelt entsprechend seinen Bedürfnissen ändert.
Ein lebendes System vollzieht stets zwei Bewegungen unterschiedlicher Art, nämlich Bewegungen, die oft nach außen hin nicht grob sichtbar sind und die der Selbsterhaltung dienen. Die nach außen nicht grob sichtbaren Bewegungen dienen der Aufrechterhaltung einer Homöostase und sind Regelkreise mit negativer Rückkopplung. Die anderen dienen in der Regel der Selbstentfaltung, sind grob sichtbar und sind Regelkreise mit positiver Rückkopplung, sich selbst verstärkende Regelkreise. Das stimmt zwar nicht immer so, ist jedoch als Ausgangshypothese brauchbar.
Der Begriff Regelkreis steht für zwei grundsätzlich unterschiedlich arbeitende Regelkreise, nämlich den Regelkreis mit negativer Rückkopplung und den Regelkreis mit positiver Rückkopplung.
Der Regelkreis mit negativer Rückkopplung sorgt dafür, dass das System einen Sollwert einhält. Auf Abweichungen vom Sollwert reagiert das System damit, dass es gegenreguliert, so dass es nach außen hin unverändert bleibt, es wird eine Homöostase aufrecht erhalten.
Der Regelkreis mit positiver Rückkopplung wirkt verstärkend. Eine Abweichung vom festgestellten Istzustand wird verstärkt. Deshalb sind hier nach außen hin dynamisch ablaufende Veränderungen grob sichtbar.
Diese beiden Begriffe von "System" und "Regelkreis" sollte der Leser immer vor Augen haben, um sie im richtigen Sinn zu verstehen. Aus dem Zusammenhang ergibt sich stets eindeutig, welcher Systembegriff gerade gemeint ist. Es ist praktisch kaum möglich oder würde sprachlich sehr holprig klingen, wenn ich jedes Mal explizit darauf hinweise, welcher Begriff bei dem verwendeten Wort nun gemeint ist. Dies sollte der Leser übrigens nicht nur hier, sondern auch bei der Lektüre anderer Werke tun, da in der Literatur diese unterschiedlichen Begriffe, die in den Worten verborgen sind, nicht immer streng getrennt werden, woraus natürlich viele überflüssige Streitereien und Meinungsverschiedenheiten resultieren.
Nebenbei bemerkt implizieren die beiden Regelkreise auch bereits einen Begriff von "gut" und "schlecht", was dem Leser ebenfalls bewusst sein sollte. Es wird nämlich oft übersehen, dass der Regelkreis Entscheidungen auf der Basis "gut" und "schlecht" trifft. Der Begriff des Regelkreises verschleiert diese Wertung, die "moralisch" erscheint. Es scheint sich um einen wissenschaftlichen wertfreien Begriff zu handeln, der lediglich ein Geschehen beschreibt, ohne irgendwelche moralischen Werturteile zu treffen. In dem Moment jedoch, wo dieser technische Begriff auf lebende Systeme angewandt wird, was ja bereits seit vielen Jahren und von vielen Wissenschaftlern gemacht wird, in dem Moment befinden wir uns plötzlich im Bereich der Moral. Weil der technische Begriff dies verschleiert, möchte ich explizit darauf hinweisen.
Der Regelkreis mit negativer Rückkopplung bewertet nämlich die Abweichung von Sollbereich als "schlecht". Deshalb vollzieht der lebende Regler ja auch die Gegenregulierung. Ohne diese Bewertung hätte er gar keinen Anlass, in diese Richtung einzugreifen.
Der Regelkreis mit positiver Rückkopplung bewertet die Abweichung vom Sollwert als "gut". Wegen dieser Bewertung verstärkt er die Abweichung. Ohne diese Bewertung hätte er gar keinen Anlass, in diese Richtung einzugreifen. Man könnte auch sagen: der zu erreichende Sollwert dieser Regelkreise liegt außerhalb des Systems, räumlich oder zeitlich.
Rudi Zimmerman |